von No$ » 04.07.2006, 12:59
Schallwellen bei Wind und Wetter
So englisch wie in England: Die Nationalspieler sind verliebt in die Atmosphäre des Dortmunder Stadions.
Von Freddie Röckenhaus
Es gab Zeiten, da vermuteten neutrale Beobachter, das Publikum im Dortmunder Westfalenstadion versuche ernsthaft, den Ball mittels der Wucht größtmöglicher Schallwellen in das gegnerische Tor zu drücken.
Physikalisch betrachtet spricht wenig für diese Theorie, aber was tut und denkt man nicht alles, um das Unerklärliche erklärbar zu machen. Dortmund jedenfalls ist das ausdrückliche Lieblingsstadion der deutschen Nationalspieler, egal woher sie kommen.
Der Mythos von Unbesiegbarkeit und Elektrizität in der Luft und von der Macht der Tribünen, der sich bei den Heimspielen von Borussia Dortmund speist, hat auch die Nationalmannschaft in ihren Bann geschlagen.
Der harte Kern
Dass Dortmunds Stadion der Nabel der deutschen Fußball-Fankultur ist, wird nur noch von streng Andersgläubige bestritten. Aber warum das so ist und warum ausgerechnet in Dortmund der Nabel deutscher Fußball-Leidenschaften liegt, hat bisher noch niemand zu Ende erklärt.
"Etwa 30 bis 40 Prozent des Publikums von Borussia", schätzt Gerd Kolbe vom WM-OK in Dortmund, "ist auch bei den Spielen der DFB-Mannschaft im Stadion dabei. Das ist der harte Kern, von denen springt die Anfeuerung und die Stimmung über, die ziehen den Rest des Publikums offenbar mit."
Regelrechte Stimmungs-Durchhänger, wie sie zuletzt beim Viertelfinal-Spiel gegen Argentinien in Berlin notiert wurden, seien in Dortmund undenkbar, meint Kolbe. "Die Leute fühlen sich als die Brasilianer Westfalens. Und das Wir-Gefühl ist hier so stark wie kaum irgendwo sonst."
"Wenn wir in Dortmund spielen, ist sowieso alles super", sagt deshalb stellvertretend Kapitän Michael Ballack, der als ehemaliger Lauterer, Leverkusener und Münchner das Stadion in Dortmund nicht gerade als Heimat sehen müsste.
Doch seit dem grandiosen 4:1 über die Ukraine, im Qualifikationsspiel zur WM 2002, bei dem Ballack vom Publikum zu einer der besten Spiele seiner Karriere motiviert wurde, ist Ballack regelrecht verliebt in die Atmosphäre von Dortmund. "Wir werden", verspricht auch der Borusse Christoph Metzelder, "in Dortmund ein Spiel machen, wie es Deutschland noch nicht erlebt hat."
Wie in England
Die Frage ,Warum Dortmund?‘ erklärt das allerdings noch nicht. Michael Meier, langjähriger Manager des BVB und einer der Baumeister des Westfalenstadions zu der jetzigen Größe - die bei knapp 82 000 Zuschauern bei Ligaspielen und (wegen des Sitzplatz-Gebots) 65 000 bei WM-Spielen liegt - hat sich mit dem Phänomen schon lange befasst.
"Zuallererst", sagt Meier, "ist es das authentischste Fußballstadion in Deutschland. Es hat keinerlei Hallen-Charakter, es ist keine Multi-Event-Arena oder sowas, es gibt noch Wind und Wetter, die Fans sind unmittelbar dran am Spielfeld. Wir haben das Stadion immer im Geiste der ursprünglichen Architektur erweitert. Und die wollte ein Stadion wie in England."
Nicht umsonst meint etwa die englische Journalistin Amy Lawrence, vom Londoner Wochenblatt The Observer: "Dortmund ist das beste Stadion, das ich erlebt habe." Die anderen Stadien, in teilweise beeindruckender, neuer Architektur, wirken im Vergleich steril, und abgehoben wie Raumschiffe. Wer sollte hier inbrünstig "Football is coming home" singen?
1974, als Dortmund erst über die Warteliste den Zuschlag als WM-Stadt bekam (weil Köln verzichtete), war die Aufgabe genau so gestellt worden: Baut das englischste Fußballstadion außerhalb von England. Otto Knefler, damals Trainer der von 1972 bis 1976 nur in der zweiten Liga spielenden Borussia, ließ den Rasen und alle Spiel- und Trainingsbälle aus England importieren, um so nah wie möglich an das damalige Ideal englischer Atmosphäre heranzurücken.
» Das Stadion und die Fans, diese Steilheit der Ränge, der Kessel, der den Schall einfängt «
Michael Meier
Keine Lobby
Damals faßte das Stadion 54 000 Zuschauer - und es war selbst bei Zweitliga-Knallern gegen die SpVgg Erkenschwick oder den Spandauer SV ausverkauft. "Das Stadion und die Fans, diese Steilheit der Ränge, der Kessel, der den Schall einfängt", schwärmt Michael Meier, "das gibt es nur in England - und in Dortmund."
Spätestens nach dem Inferno, das Fans und Mannschaft beim WM-Gruppenspiel gegen Polen (1:0) entfacht haben, muß man den England-Faktor auch als Sieges-Faktor verstehen. Dortmunds Fans waren nicht umsonst die ersten in Deutschland, die Liverpooler Fan-Chöre übersetzten und die Hymne "You‘ll never walk alone" anstimmten.
Und den "Westfalenstadion-Roar" erfanden, jene akustische Walze, die selbst hartgesottene Profis ins Mark trifft. Die Fans von Dortmund, meint BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke, "haben vielleicht ein paar weniger Highlights im Veranstaltungskalender als die Leute in München oder Berlin. Aber das ist es nicht allein. Das Herz des Fußballs schlägt im Ruhrgebiet, da ist Fußball geerdet. Nirgendwo sind die Leute so solidarisch wie hier. Das bricht sich alles Bahn in der Identifikation mit der Mannschaft."
Die DFB-Granden allerdings, so findet Watzke, honorieren die Stimmung im Stadion von Dortmund "so gut wie gar nicht". Für die nach der WM anstehende Qualifikation zur EM 2008 "ist kein einziges Spiel nach Dortmund gegeben worden. Aber da spielt die Lobby für andere Städte wohl eine starke Rolle."
Und so muss sich Dortmund, von dem der große Pele vor ein paar Tagen sagte, "hier spürt man die größte Herzlichkeit", auch weiterhin an seinem Underdog-Image abarbeiten. Noch immer, trotz Deutscher Meistertitel und Champions-League-Siegen, ist die Westfalen-Metropole mit seinem BVB nicht zum DFB-Establishment aufgestiegen.
Da bedürfte es wohl einer weiteren Klinsmann-Revolution, um auch diese Bastionen der Münchner, Stuttgarter, Frankfurter und Hannoveraner zu schleifen. Fürs Halbfinale wird Dortmunds Publikum die nächsten Mauern einreißen.
(SZ vom 4.7.2006)