von Kay » 08.01.2021, 13:23
Aus dem Hamburger Abendblatt, after the paywall.
HANDBALL
Wie Johannes Bitter gegen Zuschauer bei der WM ankämpft
Rainer Grünberg
Hamburg. Die deutsche Handball-Nationalmannschaft bereitet sich seit vergangenem Sonntag in Neuss bei Düsseldorf auf die WM in Ägypten (13. bis 31. Januar) vor. In der Vorrunde trifft der WM-Vierte von 2019 in Gizeh auf Uruguay (15.1.), Kap Verde (17.1.) und Ungarn (19.1.). Die Austragung der Titelkämpfe ist vor allem in Deutschland umstritten, der Hamburger Johannes Bitter, der in der Bundesliga seit 2016 für den TVB Stuttgart das Tor hütet, hält die möglichen Risiken jedoch für vertretbar.
„Diese WM ist weltweit für den Handballsport trotz aller berechtigter Bedenken existenziell wichtig“, sagt der 38-Jährige im Gespräch mit dem Abendblatt. Zuschauer sollten aber nicht zugelassen werden, „das wäre absurd".
Bitter wurde 2007 bei der Heim-WM mit der deutschen Nationalmannschaft Weltmeister, mit dem Handball Sport Verein (HSV) Hamburg 2011 deutscher Meister und 2013 Champions-League-Sieger. Mit dem ehemaligen Hockeyspieler und Marketingexperten Christian Monzel (59) vertreibt er Nahrungsergänzungs-Drinks aus natürlichen Inhaltsstoffen ohne Zucker. Ihre Firma Drinkbetter mit Sitz in Tangstedt bei Hamburg fand in der Vox-Gründer-Show „Höhle der Löwen" im vergangenen April zwei Paten.
Hamburger Abendblatt: Herr Bitter, kommt bei Ihnen inzwischen Vorfreude auf die Weltmeisterschaft auf?
Johannes Bitter: Internationale Großturniere wie Weltmeisterschaften oder Olympische Spiele sind gewöhnlich Höhepunkte in jeder Spielerkarriere. Die Lust auf diese WM ist bei mir schon vorhanden, sonst würde ich nicht antreten, doch sie ist wegen der Umstände natürlich nicht ungetrübt. Fragen bleiben: Wie hoch ist das Risiko, wie konsequent wird das Hygienekonzept umgesetzt? Das werden wir alles wohl erst ganz genau vor Ort erfahren.
Als Vorstand der deutschen Handball-Spielergewerkschaft GOAL haben Sie in den vergangenen Monaten mit anderen europäischen Profivertretungen auf bestimmte unverzichtbare Hygienestandards gedrungen. Wurden Sie gehört?
Bitter: Mit dem Weltverband IHF wurden viele Details besprochen. Alle Planungen waren transparent, wir wurden regelmäßig upgedatet. Das Konzept wurde Woche für Woche verfeinert, die IHF war offen für Veränderungen und hat sich zudem weitgehend an den Erfahrungen der Handball-Bundesliga orientiert. Das hat Vertrauen geschaffen. Auch eine unserer wichtigsten Forderungen, dass positiv getestete Spieler sofort in ihre Heimatländer ausgeflogen werden und eine mögliche Quarantäne nicht in Ägypten verbringen müssen, wird nach anfänglichen Widerständen jetzt umgesetzt.
Wie sicher sind Sie, dass die strikten Vorgaben auch alle eingehalten werden?
Bitter: Unser Mannschaftsarzt Kurt Steuer hat längere Zeit in Ägypten gearbeitet. Er sagte uns, wenn Staat und Regierung hier etwas wollen, und diese WM ist gewollt, sie ist eine Prestigeangelegenheit für das Land, sind sie in der Lage, alles optimal zu gestalten. Da mache ich mir keine Sorgen.
Vereinsvertreter der Handball-Bundesliga halten das Hygienekonzept der Ägypter für einen Witz.
Bitter: Wie gesagt, dass Konzept ist vielfach den neuen Hygiene-Herausforderungen angepasst worden. Auch wenn nicht alles optimal ist, sind doch viele Dinge inzwischen gut gelöst.
Herr Bitter, wie riskant ist diese Handball-WM?
Die Ägypter wollen Zuschauer bis zu 20 Prozent der jeweiligen Hallenkapazität in die WM-Arenen lassen, im ersten Entwurf waren es sogar 30 Prozent. Bei Ihren Vorrundenspielen in Gizeh wären das bis zu 900 Besucher. Auch sollen Medienvertreter mit Ihnen im selben Hotel wohnen. Sind das nicht weitere unkalkulierbare Gefahren?
Bitter: Jeder Mensch mehr in der Blase ist ein zusätzliches Wagnis, eine noch größere Herausforderung für das Hygienekonzept.
Werden Sie die Zulassung von Zuschauern akzeptieren? Bei diesem Punkt regte sich unter den Spielern in dieser Woche heftiger Widerstand.
Bitter: Die europäische Spielergewerkschaft E.H.P.U. hat am Mittwoch im Namen der Kapitäne und aller Spieler der europäischen Nationalmannschaften ein Schreiben an den ägyptischen Weltverbandspräsidenten Hassan Moustafa verfasst, mit der dringenden Bitte, während der WM auf Zuschauer zu verzichten.
Ist das ein Ultimatum?
Bitter: Nein. Aber wir gehen davon aus, dass diese Bitte intensiv geprüft und hoffentlich auch erfüllt wird. Vor Zuschauern zu spielen ist nicht nur wegen der zusätzlichen Gesundheitsrisiken absurd, auch angesichts der Lage in unseren Heimatländern, in denen die Menschen ihre Wohnungen möglichst nicht verlassen sollen und unsere Spiele nur Familienkreise im Fernsehen verfolgen können.
Bitter spricht über seine Corona-Infektion
Trotz eines ausgeklügelten Hygienekonzeptes haben Sie sich Anfang November bei einem EM-Qualifikationsspiel der Nationalmannschaft in Estland mit Sars-CoV-2 infiziert. Ein Risiko also bleibt.
Bitter: Die Hygienebedingungen in unserer Lehrgangswoche und in Tallinn waren noch besser als in der Bundesliga. Bis heute ist nicht geklärt, wann und wo ich mich und die anderen Spieler angesteckt haben. Das war trotz aller Vorsichtsmaßnahmen wahrscheinlich einfach Pech.
Wie geht es Ihnen heute?
Bitter: Vor Weihnachten habe ich mich einem weiteren gründlichen Gesundheitscheck unterzogen, habe mich auf Herz, Nieren, Lunge prüfen lassen. Organisch ist alles in bester Ordnung, alle Blutwerte waren gut. Das hat mich beruhigt. Ich schmecke und rieche zwar noch nicht alles, habe aber nicht mehr die anfänglichen Kopf- und Gliederschmerzen. Beim Sport spüre ich keine Leistungseinschränkungen. Meine Form ist gut (Bitter ist statistisch nach gehaltenen Bällen hinter dem Dänen Mike Jenen aus Balingen-Weilstetten aktuell der zweitbeste Torhüter der Bundesliga, die Red.). Ich arbeite aber oft noch bis in den späten Abend für Goal oder unser Start-up Drinkbetter, für das wir jetzt ein zweites Nahrungsergänzungsmittel mit dem Namen „immune+“ auf den Markt gebracht haben. Diese Zusatzbelastungen stecke ich momentan nicht mehr so locker weg wie vorher. Ich werde schneller müde, muss mich danach länger erholen.
Nach Ihren persönlichen Erfahrungen mit Corona: Wäre es nicht besser gewesen, diese WM abzusagen oder zu verlegen?
Bitter: Diese Überlegungen sind legitim, und angesichts des harten Lockdowns nicht nur in Deutschland muss diese Frage auch gestellt werden. Diese Weltmeisterschaft ist aber wichtig, um den Handball weltweit auch für die nächste Generation am Leben zu erhalten, wirtschaftlich und medial. Daran hängen Existenzen. Solange die Gesundheit der Spieler und die aller anderen Beteiligten nicht gefährdet ist, die Verbreitung des Virus mit umfänglichen Maßnahmen verhindert werden kann, und davon gehe ich inzwischen aus, halte ich die Austragung dieser WM für vertretbar.
Bitter würde sich impfen lassen
Einige Ihrer Nationalmannschaftkollegen sehen das offenbar anders und verzichten auf die Teilnahme.
Bitter: Das ist ihr gutes Recht. Auch ich habe meine Nationalmannschaftskarriere vor zehn Jahren vorübergehend beendet, als unsere Kinder noch klein waren und meine Familie meine Unterstützung noch mehr brauchte als heute.
Die meisten anderen Nationalmannschaften treten dagegen weitgehend in Bestbesetzung an. Was läuft bei ihnen anders?
Bitter: Ich will nicht sagen, dass wir weniger patriotisch sind, das sind wir nicht. Vielleicht sind wir kritischer, fragen mehr nach. Andere mögen sich diese Fragen vielleicht nicht stellen, oder sie kommen zu anderen Antworten. Da heißt es meist: Jetzt ist WM, also spielen wir!
Würden Sie sich impfen lassen?
Bitter: Vor der WM ist das kein Thema, grundsätzlich aber schon, wenn meine Altersgruppe an der Reihe ist. Unser Mannschaftsarzt empfiehlt uns allen die Impfung, sieht darin keine Risiken für Leistungssportler.
Bei der EM 2016 in Polen gewann die deutsche Nationalmannschaft trotz zahlreicher Verletzungsausfälle den Titel. Trauen Sie Ihrem Team in Ägypten eine ähnliche Überraschung zu?
Bitter: Wir gehören sicherlich nicht zu den Favoriten, auch der Gewinn einer Medaille scheint jenseits der Möglichkeiten zu liegen. Vielleicht hilft es aber, dass niemand große Erwartungen an uns stellt. Eine gewisse Leichtigkeit und Lockerheit hat noch keinem Team geschadet.
Sie müssen in Ägypten drei Wochen lang in einer Blase leben, Aufenthalt nur im Hotel und in der Halle, mit stark verminderten sozialen Kontakten. Welche Schwierigkeiten erwarten Sie?
Bitter: Es ist geplant, wenn wir uns alle eingelebt haben, alle Tests negativ waren, dass wir zu einer gewissen Normalität innerhalb der Mannschaft zurückkehren. Zunächst werden wir in Einzelzimmern schlafen, es besteht allerdings der Wunsch, wenn möglich, wieder Zweibettzimmer beziehen zu können. Auch soll es später Gemeinschaftsräume für unser Team geben, selbst kleinere Ausflüge sollen unter speziellen Auflagen möglich sein. Unser Hotel liegt in der Nähe Kairos mit Blick auf die Pyramiden in Gizeh. Insofern stimmt schon mal die Aussicht.
Wie Bitter die HSV-Handballer verfolgt
Eine letzte Frage noch zum HSV Hamburg, für den Sie bis Dezember 2015 gespielt haben. Verfolgen Sie die Entwicklung der Mannschaft?
Bitter: Natürlich. Es ist großartig, was die Jungs leisten. Ich kenne Linksaußen Tobias Schimmelbauer noch aus Stuttgart, auch in Hamburg wohnt er bei mir in der Nähe. Ich bin also halbwegs gut informiert und hoffe, dass die Jungs ihre großartigen Leistungen mit dem Aufstieg krönen. Verdient hätten sie’s.
Und in der nächsten Saison stünden Sie dann wieder beim HSV Hamburg im Tor?
Bitter: Jetzt steht die WM an, im März in Berlin die Olympia-Qualifikation und dann hoffentlich die Olympischen Spiele im Juli/August in Tokio.
Was passiert danach?
Das wird bestimmt bis zum Frühjahr entschieden sein.
Liebe SG, die Hauptsache am Wind: immer eine Handbreit Wasser über Kiel.